CharakterofSeptember2018: Freunde und Familie von Cira Nr. 5

Diesmal besuche ich Cira in ihrer eigenen Stadt. Wir treffen uns in einer Straße zwischen tiefen Häuserschluchten. Es ist trist hier, ohne jegliches Grün, ohne richtigen Himmel und ohne das Licht einer echten Sonne. Cira ist genauso grell geschminkt wie beim letzten Mal und auch ihr Allerweltslächeln hat sie wieder mitgebracht. An ihr ist alles pinkfarben, von den Schuhen bis zum Lippenstift.
„Hi“, sagt sie und grinst bis zu den Ohren. „Was gibt‘s heute für Fragen?“
„Hi“, erwidere ich müde, denn irgendwie finde ich sie anstrengender als Alvan. Obwohl sie nichts sagt und überaus freundlich wirkt, habe ich das Gefühl, sie unterhalten zu müssen. Wenn mein bockiger Krieger bei mir ist, gibt es Zeiten der Ruhe. Wir können lange nebeneinander stehen, ohne etwas zu sagen, ohne das Gefühl zu haben, etwas sagen zu müssen. Die Ruhe ist normal und tut uns gut.
„Wie und wo bist du aufgewachsen?“, frage ich und bemerke, wie ich ebenfalls freundlich und gezwungen lächle.
Sie sieht mich kurz irritiert an, bevor sie antwortet: „Ich bin da aufgewachsen, wo wir alle aufgewachsen sind.“
„Und das wäre?“
„Natürlich in der Erziehungsanstalt. Alle Kinder gehören in die Erziehungsanstalt, bis sie alt genug sind, arbeiten zu gehen. Das weißt du nicht?“
Natürlich wusste ich das, aber sie schien nicht ganz zu begreifen, wer ich bin. „Warst du ein glückliches Kind?“
„Du stellst aber seltsame Fragen.“ Sie sieht mich verwundert an. „Natürlich war ich glücklich. Wir alle sind hier glücklich.“
„Na, dann ist ja alles perfekt.“
Sie nickt eifrig, aber das innere Leuchten, das wirklich glückliche Menschen ausstrahlen, besitzt sie nicht.
„Warst du gut in der Schule?“, stelle ich die nächste Frage und sehne mich nach Alvan zurück.
„Was ist gut?“ Fragend zieht sie die Augenbrauen nach oben. Als ich nicht gleich antworte, verzieht sie unmerklich das Gesicht. „Wir lernen, wie man sich selbst gut darstellt, wie man die ganzen Produkte benutzt. Das konnte ich ganz gut. Meinst du das?“
„Ja, so etwas in der Art.“ Sie war bestimmt eine eifrige Schülerin. „Wofür bist du deinen Eltern dankbar?“
„Eltern?“ Sie sieht mich hilflos an.
„Ich meine deinen Vater, deine Mutter.“
„Ah, jetzt weiß ich, was du meinst.“ Ihr Gesicht hellt sich auf. „Der Konsum ist der Motor unserer Gesellschaft. Nur ihm haben wir unseren Wohlstand zu verdanken. Er ist unsere Mutter und unser Vater.“
Ihre Worte klingen dahergeredet, wie auswendig gelernt. „Wer kennt dich am besten?
„Lucio, mein Wohlfühlmanager.“ Diese Antwort kommt spontan. „Da gehe ich immer hin. Der hört mir zu und sagt mir, was ich bei Problemen machen muss.“
„Wie zeigst du, dass du jemanden nett findest?“
„Nett finden? Du meinst doch nicht etwa die Kerle?“ Sie verzieht angeekelt das Gesicht. „Man zeigt niemanden, dass man ihn nett findet. Jeder ist nett und man ist zu jedem freundlich. Mit manchen gehe ich lieber ins Sorglose Glück als mit anderen. Naja, aber richtig nett finden? Wozu soll man das brauchen? Es ist mir auch so nicht langweilig.“
Ich atme tief durch. Ich weiß ja, dass es bei den Machern keine Beziehungen zwischen den Geschlechtern gibt, keine richtigen Freundschaften. Es ist seltsam, jemanden Fragen zu stellen, die so gar nicht in seine Welt passen wollen. Plötzlich spüre ich jemanden in meiner Nähe, dessen mentale Präsenz ich schmerzlich vermisst habe. Die letzte Frage, ob sie Menschen eine zweite Chance gäbe, kann ich mir bei Cira sowieso sparen. „Das war’s für heute“, sage ich zu ihr. „Ich danke dir.“
„Das war’s? So plötzlich Schluss?“
„Ja.“
Sie nickt und scheint ein wenig traurig, aber dann grinst sie gezwungen, dreht sich um und entfernt sich mit gestelzten Schritten über die graue Straße.
Eine vertraute Person erscheint an der Häuserecke und lächelt unmerklich. Dabei strahlt sie so viel Wärme aus, dass es mir gleich viel besser geht. „Du scheinst seltsame Personen zu lieben“, sagt er spöttisch.
„Alvan!“, freue ich mich. „Du bist mir nicht mehr böse?“
„Böse?“ Er zuckt die Schultern. „Deine dämlichen Fragen hat ja nun sie beantwortet. Denen macht so etwas nichts aus, denn die sind hier alle verdreht. Wenn du mich nicht ärgerst, mache ich wieder mit.“
„Hm. Wir werden sehen“, erwidere ich schelmisch. „Wenn es dir zu dumm wird, hole ich halt wieder Cira.“

Anja Fahrner - Autorin
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