Charakterofseptember Tag 6-7; stärkster/schwächster Charakterzug, Reaktion auf Lob/Kritik

Er steht in der Tür zu unserer Küche.
„Ist es wieder einmal soweit?“ Diesmal bin ich ein wenig genervt. Wir machen gerade Sauerkraut und in der Küche sieht es aus, als wollten wir dort ein Gemüsebeet anlegen. „Es dauert nicht lange“, sage ich zu meinem Mann, dem das gerade gar nicht passt, wische mir die Finger an einem alten Handtuch ab und gehe mit Alvan nach draußen.


Er strebt zu der Bank, auf der wir bei seinem zweiten Besuch gesessen haben. Die scheint ihm zu gefallen. „Was hast du heute für Fragen an mich?“ Er lässt sich seufzend nieder, lässt seinen Blick über den beginnenden Herbst schweifen.
Ich setze mich neben ihm und komme mir klein und zierlich vor, was ich ja nicht unbedingt bin. Ein wenig fürchte ich um die Stabilität unserer Bank, denn das ist so ein Baumarktteil, nicht unbedingt das stabilste Modell, jedenfalls nichts, was für so einen wuchtigen Krieger gebaut wurde.
„Habt ihr eine gut Ernte gehabt?“
Er interessiert sich erstmals für mich, scheint heute zugänglicher zu sein. „Ein paar Kohlköpfe so groß wie Fußbälle“, erwidere ich. „Dieses Jahr scheint ein Kohljahr zu sein, letztes Jahr gab es da nicht viel.“ Ich denke daran, dass ich ja schon die ganze Zeit mal einen Blogbeitrag über die Sauerkrautherstellung schreiben wollte.
„Hmhm. Kommt dein Mann da drinnen alleine klar?“ Er deutet mit dem Kopf in Richtung Haus.
„Er hasst es, die Kohlköpfe zu säubern. Unten am Strunk sind oft Schnecken, das hasst er. Dafür raspelt er und stampft. Zu lange sollte ich ihn nicht alleine lassen.“
Wieder kommt diese Sanfte in seine harte Miene und ich weiß, dass wir uns seit unserem letzten Gespräch angenähert haben. „Sollte es in einer Partnerschaft nicht so sein, dass man sich ergänzt, sich gegenseitig hilft. Meist sehe ich bei den Menschen aber nur, dass sie um sich selbst kreisen und versuchen, möglichst großen Nutzen aus ihren Mitmenschen zu schlagen.“
Jetzt schweift er ab. Wie gerne hätte ich mit ihm über dieses Thema geredet, aber nicht heute, ausgerechnet am Sauerkrauttag. „Was ist dein stärkster, was dein schwächster Charakterzug?“, übergehe ich seine Bemerkung und tue damit das, was ich eigentlich selbst nicht mag.
Er betrachtet einen Moment die Blätter unserer Kirsche, die schon gelb werden. „Ich kann ziemlich viel aushalten, verliere nie die Nerven und lasse mich nicht unterkriegen.“
„Das ist gut. Und deine Schwäche?“
„Kennst du das, wenn das Leid deines Gegenübers in dich reinkriecht. So richtig reinkriecht, als wäre es ein Teil von dir.“
„Du meinst Mitgefühl?.“
„Nein, das ist mehr. Und es wird schlimmer. Weißt du, was das für einen Krieger wie mich bedeutet?“
„Für einen Krieger mag es in manch einer Situation eine Schwäche sein, aber ist es nicht auch eine Stärke, wenn man sein Gegenüber spüren kann?“
„Nein, nicht in meiner Situation“, erwidert er heftig. „Ich verfluche das. Das ist nicht normal. Und ich glaube, keiner fühlt das so wie ich.“
„Wie reagierst du auf Lob oder Kritik“, gehe ich zur nächsten Frage über, obwohl ich ihm gerne erklärt hätte, warum er so fühlt, warum er anders als die anderen Krieger ist. Doch das haben vor mir schon andere vergeblich versucht. Er blockt noch ab und es muss erst noch etwas Schwerwiegendes passieren, bis er bereit ist, sein Weltbild zu revidieren, bereit ist, zu erkennen, wer er wirklich ist.
„Lob und Kritik interessieren mich nur wenig“, erwidert er etwas pikiert.
„Bis zum nächsten Mal“, sage ich und erhebe mich. „Du weißt doch. Das Sauerkraut wartet.“ Und es tut mir leid, ihn dort alleine zu lassen.

Anja Fahrner - Autorin
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