CharakterofSeptember Tag 7: Was wissen die meisten Menschen nicht über dich?


Dunkle Wolkenfetzen ziehen über den Himmel, es ist kühl und windig geworden. Ich stehe mitten in einem abgeernteten Beet und strecke mich, um an einen Apfel heranzukommen.
„Was gibt es heute für eine Frage?“
Ich zucke unmerklich zusammen, blicke mich um. Da steht Alvan. Ich weiß doch, dass er jetzt kommen wollte, aber er hat so eine unangenehme Art, sich anzuschleichen.
„Was machst du da?“ Schmunzelnd blickt er auf meine verkrampfte Haltung.
„Ein paar Äpfel sind schon reif. Die können schon in unser Lager.“
„Aha.“ Er blickt in die Krone unseres kleinen Apfelbaums, dessen Äste sich unter dem Gewicht der Früchte biegen. „Wie merkt man, welche soweit sind?“
Ich greife nach einem der Äpfel, biege ihn nach oben, aber der Stiel löst sich nicht vom Ast. „Siehst du, der ist zum Beispiel noch nicht reif. Sie müssen ganz leicht abgehen, dann sind sie soweit.“


„Wie dieser hier?“ Er hat ebenfalls nach einem der rotbackigen Früchte gegriffen und sie behutsam nach oben gebogen. Jetzt hielt er sie in der Hand und biss hinein. „Nicht schlecht.“
„Das ist ein Freiherr von Berlepsch, eine alte Apfelsorte. Kann man alles mit machen und hält im Lager bis weit in den März hinein.“ Ich verstumme, denn mir wird klar, dass ich ihn nicht eingeladen habe, um über Apfelsorten zu referieren.
„So, so. Ein Freiherr von Berlepsch also.“ Ein belustigtes Funkeln strahlt aus seinen Augen, während er abermals in den Apfel beißt. „Ein edler Name für so ein kleines Äpfelchen.“
„Ja, der Größte ist er nicht“, murmele ich und sammle meine Gedanken. Die Frage, die heutige Frage. Die will ich ihm stellen: „Gibt es etwas, was niemand über dich weiß?“, bricht es aus mir heraus.
Sein Lächeln gefriert. „Es wird wohl immer persönlicher.“
„Ja, tut mir leid. So sind halt die Fragen“, weiche ich ungeschickt aus, denn ich muss jetzt schon an den zehnten Tag denken, eine Frage, die ihm einiges abverlangen wird.
„Nun, gut.“ Er wirft die Reste des Apfels unter sich. „Niemand weiß etwas über meine Sehnsüchte und Träume.“
Ich lächle ihm aufmunternd zu, denn das ist neu an ihm, die innere Reife und die Bereitschaft, sich anderen zu offenbaren. Hätte ich ihm diese Frage letztes Jahr gestellt, hätte er mir nur eine unfreundliche Abfuhr erteilt.
„Ich träume immer den gleichen Traum.“ Er blickt sich um und setzt sich schließlich auf die Eingangsstufe zu unserem Treibhaus, stützt sich mit seinen Ellenbogen auf seinen Oberschenkeln ab und blickt versonnen unter sich. „Ich laufe über eine karge Ebene, aber nicht allein, sondern mit anderen, die genauso sind wie ich. Wir jagen eine mächtige Kreatur. Wir sind im Geist verbunden und ich gebiete über ein riesiges Heer hüfthoher Wesen. Das Gefühl der Macht und das Fieber der Jagd sind überwältigend.“ Bei diesen Worten blickt er auf und ich erkenne den Schmerz in seinen Augen. „Doch das ist nicht mein Leben“, fährt er fort. „Sondern das Leben desjenigen, der in meinen Genen ruht. Ich träume über etwas, das ich nie erlebt habe und verspüre Sehnsucht nach einer Welt, die ich nicht kenne. Ich habe Angst, dass diese andere Person in mir mich irgendwann dominiert, mich auslöscht.“ Er blickt wieder unter sich. „Ich möchte mein eigenes Leben führen, ohne diese verfluchte Vergangenheit“, fügt er leise hinzu.

Anja Fahrner - Autorin
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