Charakterofseptember Tag 11 bis 15: Gesellschaftsschicht und Familie von Alvan, dem Kriegersklaven des Hohen Rates

Wir reiten einen steilen Gebirgspfad empor; karge Felsen, eisiger Wind, dann ein Abgrund, der uns den Weg versperrt. Ich starre auf eine mächtige dunkle Mauer, die in den Himmel zu wachsen scheint. Die Festung Malatomb – das Ausbildungslager der Kuraner.


„Wer da?“, schreit eine Männerstimme von oben.
„Kuraner Alvan!“, ruft mein Begleiter empor. „Geleitschutzauftrag. Ich benötige Unterkunft und Verpflegung!“
Als ich Alvan gesagt habe, dass sich die Fragen heute um die Gesellschaftsschicht drehen, in die er hineingeboren wurde, und um seine Familie, forderte er mich auf, ihn in seine Welt zu begleiten.
Er setzte mich auf ein seltsames Federvieh, ein Karnup, wie er es nannte. Es sieht aus wie ein schnabelloser, überdimensionierter Strauss mit gefiedertem Hals und Beinen, der Gang ist schaukelnd, ähnlich wie bei einem Kamel.
Einen Tag sind wir bereits unterwegs, schweigsam. In seiner Welt ist Alvan anders als bei seinen Besuchen bei mir zu Hause. Sein Gesicht wirkt hart und versteinert, jede seiner Bewegungen ist routiniert und zielgerichtet. Diesmal trägt er seine Waffen – Rundschild, Bogen und ein riesiges Schwert – und ich habe das Gefühl, dass seine Sinne die Umgebung durchdringen, auf eine unangenehm aufmerksame Weise. Doch beruhigt er mich auch, denn ich weiß, er passt auf mich auf, schützt mich vor den menschenfressenden Bestien, die hier in der Wildnis hausen.
Knarzend senkt sich die Zugbrücke über den Abgrund. Wir reiten weiter. Dumpf tapsen die Füße meines Karnups über das Holz und ich bemühe mich, nicht nach unten in diese endlose Tiefe zu blicken. Hinter uns schließt sich die Zugbrücke und ich fühle mich eingesperrt zwischen Felsen und Mauern, einer Schlucht, die zu einem zweiten Tor führt, das sich ebenfalls für uns öffnet und hinter uns schließt. Wir erreichen einen Platz mit mehreren Gebäuden, genauso dunkel wie alles hier.
Wir springen von unseren Tieren ab und Alvan übergibt sie an einen Soldaten, der sie in den Stall führt.
„Das ist mein zu Hause“, sagt Alvan leise. „Hier habe ich achtzehn Jahre meines Lebens verbracht.“
„Kann ich die Anlage besichtigen?“
„Nein“, erwidert er hart. „Frauen haben dort nichts verloren.“ Er führt mich an den Rand des Platzes zu einer schießschartenartigen Öffnung in der Mauer. Von hier aus kann ich nach unten auf das Trainingsgelände der Kriegersklaven blicken. Junge Männer kämpfen mit Schwertern gegeneinander, Knaben hasten über einen Parcours, Befehle und das Klirren von Waffen schallen zu uns herauf.
„Ich lernte zu reiten, noch bevor ich richtig laufen konnte, lernte zu kämpfen, noch bevor ich richtig sprechen konnte“, erzählt er dumpf. „Bei dem kleinsten Vergehen bekam ich die Peitsche zu spüren.“
Ich nicke beklommen und der eisige Wind scheint auch in meine Seele zu wehen. „Was ist deine glücklichste Kindheitserinnerung?“
„Glücklich?“ Das Wort scheint in seiner Gedankenwelt keine Bedeutung zu haben und er beobachtet eine Weile die jungen Krieger unterhalb. „Ganz hinten in der Anlage gibt es ein paar Felsvorsprünge. Man kann auf die Mauer klettern. Mit meinem damaligen Freund Darkon habe ich das als Kind öfters getan, spät am Abend, wenn das Training vorbei war und die Sonnte unterging. Wir konnten ins Tal hinabblicken, sahen ein paar Häuser in der Ferne, Lichter. Wir erzählten uns Geschichten, überlegten uns, wie es wäre, ein ganz normaler Mensch zu sein, in einer Familie leben zu können, Vater und Mutter zu haben. Das waren schöne Momente.“ Bei diesen Worte geht wieder diese Schwermut von ihm aus.
„Wer war deine Bezugsperson als Kind?“
„Ich hatte keine. Erst später als Jugendlicher kam ein junger Feldscher. Er flickte mich zusammen, wenn ich bestraft worden war und erzählte mir Geschichten über sein Leben, über die Freiheit. Er hatte Verständnis für mich.“
„Weißt du, wer deine Eltern sind?“, frage ich und ziehe fröstelnd den Umhang fester um meine Schultern.
Mit dem Kopf deutet er auf eins der Gebäude, ein fast schwarzes Bauwerk, umgrenzt von einer Mauer. „Dort hinten werden die Leihmütter des Hohen Rates untergebracht. Sie bringen hier ihre Söhne zur Welt. Wenn ihre Kinder von der Muttermilch entwöhnt sind, bekommen sie ihre Belohnung und verschwinden wieder.“
Die Leihmütter des Hohen Rates. Leiser Ärger kriecht in mir hoch. Die Händler zahlen den armen Bauern eine stattliche Belohnung, wenn sie ihre Frauen zur Kuranerzucht zur Verfügung stellen. „Und dein Vater?“
„Irgendein Kuraner.“ Bei diesen Worten blickt er mich forschend an. „Du weißt, dass die Bäuerinnen unsere einzige Belohnung sind.“
„Triebabfuhr gegen gewinnbringenden Kuranernachwuchs“, erwidere ich mit leisem Vorwurf. In jedem Dorf bekamen die Kriegersklaven Frauen angeboten. Die Frauen kamen meist nicht freiwillig, sondern aus der Not heraus oder wurden von ihren Männern dazu gezwungen. Was für ein krankes System, denke ich bei mir, und Alvan ist ein Teil davon. Soweit ich weiß, ist er dieser Art von Belohnung auch nicht abgeneigt. Plötzlich fühle ich mich sehr müde und bin froh, hier nicht als Frau geboren worden zu sein. „Gehen wir in das Gästehaus“, sage ich zu ihm. „Morgen möchte ich deinen besten Freund kennenlernen.“

Anja Fahrner - Autorin
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